Tuesday 16 June 2015

ERZÄHLER DER NACHT



 
Es ist schon eine seltsame Geschichte: Der Kutscher Salim wurde stumm. Wäre sie nnicht vor meinen Augen geschehen, ich hätte sie für übertrieben gehalten. Sie begann im August 1959 im alten Viertel von Damaskus. Wollte ich eine ähnlich unglaubliche Geschichte erfinden, so wäre Damaskus der beste Ort dafür. Nirgendwo anders als in Damaskus könnte sie spielen.
 
Unter den Einwohenrn von Damaskus gab es zu jener Zeit seltsame Menschen. Wen wundert das bei einer alten Stadt? Man sagt, wenn eine Stadt über tausend Jahre ununterbrochen bewohnt bleibt, versieht sie ihre Einwohner mit Merkwürdigkeiten, die sich in den vergangenen Epochen angesammelt haben. Damaskus blickt sogar auf ein paar tausend Jahre zurück. Da kann man sich vorstellen, was für sonderbare Menschen in den verwinkelten Gassen dieser Stadt herumlaufen. Der alte Kutscher Salim war der merkwürdigste unter ihnen. Er war klein und schmächtig, doch seine warme und tiefe Stimme ließ ihn leicht als einen großen Mann mit breiten Schultern erscheinen, und schon zu Lebzeiten wurde er zur Legende, was nicht viel heißen will in einer Stadt, wo Legenden und Pistazienrollen nur zwei von tausendundeine Spezialität sind.
 
Durch die vielen Putsche der fünftiger Jahre verwechselten die Bewohner des alten Viertels die Namen von Ministern und Politikern nicht selten mit denen von Schauspielern und anderen Berühmheiten. Aber für alle gab es im alten Stadtviertel nur diesen einen Kutscher Salim, der solchhe Geschichten erzählen konnte, daß die Zuhörer lachen und weinen mußten.
 
Unter den merkwürdigen Menschen hatten einige für jedes Geschehen ein passendes Sprichwort parat. Doch es gab nur einen Mann in Damaskus, der zu allem eine Geschichte wurßte, ob man sich nun in den Finger geschnitten, sich eine Erkältung geholt oder unglücklich verliebt hatte. Wie aber wurde der Kutscher Salim zum bekantesten Erzähler in unserem Viertel? Die Antwort auf diese Frage ist, wie nicht anders zu erwarten, eine Geschichte.
 
Salim war in den dreißiger Jahren Kutscher und fuhr die Strecke zwischen Damaskus und Beirut. Damals brauchten die Kutscher zwei anstregende Tage für die Fahrt. Zwie gefährliche Tage waren es, weil die Strecke durch die zerklüftete "Hornschluht" führte, wo es von Räubern nur so wimmelte, die ihr Brot damit verdienten, Vorbeifahrende auszurauben.
 
Die Kutschen waren kaum voneinander zu unterscheiden. Sie waren aus Eisen, Holz und leder gebaut und boten Platz für vier Fahrgäste. Der Kampf um die Fahrgäste war unbarmherzig; nicht selten entschied die härtere Faust, und die Gäste mußten, noch bleich vor Schreck, in die Kutsche des Siegers umsteigen. Auch Salim kämpfte, doch selten mit der Faust. Er setzte seine List und seine unbesiegbare Zunge ein.
 
Zur Zeit der Wirtschaftsskrise, als die Anzahl der Fahrgäste immer weniger wurde, mußte sich der gute Salim etwas einfallen lassen, um seine Famillie durchzubringen. Er hatte eine Frau, eineTochter und einen Sohn zu ernähren. Die Raubüberfälle mehrten sich, weil viele verarmte Bauern und Handwerker in die Berge flüchteten und ihr Brot als Weglagerer verdienten. Salim versprach den Fahrgästen leise: "Das konnte er versprechen, weil er zu vielen Räubern gute Beziehungen unterhielt. Unbehelligt fuhr er immer wieder von Damaskus nach Beirut und zurück. Erreichte er das Gebiet eines Banditen, so ließ er - von den Fahrgästen unbemerkt - mal etwas Wein, mal etwas Tabak am Straßenrand zurück, und der Räuber winkte ihm freundlich zu. Er wurde nie überfallen. Aber nach einer Weile sickerte das Geheimnis seines Erfolges durch, und alle Kutscher machten es ihm nach. Auch sie hinterließen Gaben am Straßenrand und durften friedlich weiterfahren. Salim erzählte, das sei so weit gegangen, daß aus den Räubern fette, träge Sammler wurden, die niemandem mehr Angst einjagen konnten.
 
Die Aussicht auf sicheren Schutz vor Räubern lockte also bald keinen Fahrgast mehr in seine Kutsche. Salim überlegte  verzweifelt, was er tun könnte. Eines Taes brachte ihn eine alte Dame aus Beirut auf die rettende Idee. Während der Fahrt erzählte er ihr ausführlich die Abenteuer eines Räubers, derr sich ausgerechnet in die Tochter des Sultans verliebt hatte. Salim kannte den Räuber persönlich. Als die Kutsche am Ende der Reise in Damaskus hielt, soll die Frau gerufen haben: "Gott segne deine Zunge, junger Mann. Die Zeit mit dir war viel zu kurz. "Salim nannte diese Frau seine "Glücksfee", und von nun an versprach er den Fahrgästen, vom Beginn der Reise bis zur Ankunft Geschichten zu erzählen, so daß die Mühen der Reise gar nicht spüren würden. Das war seine Rettung; denn kein anderer Kutscher konnte so gut erzählen wie er.
 
Wie schaffe es aber der alte Fuchs, der nicht lesen und schreiben konnte, immer wieder neue und frissche Geschichten zu erzählen? Ganz einfach! Wenn die Fahrgäste ein paar Geschichten gehört hatten, fragte er beiläufig: "Kan jemand von euch auch eine Geschichte zum besten geben?" Da ab es unter den Leuten immer wieder jemanden, einen Mann oder eine Frau, der antwortete: "Ich kenne eine unglaubliche Geschichte. Sie ist aber bei Gott wahr! Oder: "Na, ja, ich kann nicht gut erzählen, doch ein Schäfer hat mir einst eine Geschichte erzählt, und wenn die Herrschaften mich nicht auslachen, würde ich sie gern erzählen. Er würzte sie später nach und erzählte sie den nachsten Fahrgästen. So war sein Vorrat immer frisch und unerschöpflich.
 
Stundenlang konnte der alte Kutscher die Zuhörer mit seinen Geschichten verzaubern. Er erzählte von Königen, Feen und Räubern, und er hatte in seinem langen Leben viel erlebt. Ob er heitere, traurige oder spanende Geschichten erzählte, seine Stimme verzauberte jeden. Sie brachte nicht nur Trauer, Zorn  und Freude hervor, es wurden sogar Wind, Sonne und Regen für uns spürbar. Wenn Salim zu erzälen anfing, segelte er in seinen Geschichtewie eine Schwalbe. Er flog über Berge und Täler und kannte alle Wege von unserer Gasse bis nach Peking und zurück. Wen es ihm gefiel, landete er auf dem Berg Ararat - und sonst nirgends - und rauchte seine Wasserpfeife.
 
Hatte der Kutscher keine Lust zu fliegen, so durchstrefte er in seinen Erzählungen die Meere der Erde wie ein junger Delphin. Wegen seiner Kurzsichtigkeit begleitete ihn auf seinen Reisen ein Bussard und lieh ihm seine Augen.
 
So schmächtig und klein er auch war, in seinen Erzählungen bezwang Salim nicht nur Riesen mit funkelnden Augen und furchterregenden Schnurrbärten, er schlug auch Haifische in die Flucht, und fast auf jeder Reise kämpfte er it einem Ungeheure.
 
Seine Flüge waren uns vertraut wie das anmutige Segeln der Schwalben am blauen Himmel von Damaskus. Wie oft stand ich als Kind am Fenster und schwebte in Flüge haben mir damals kaum Angst bereitet. Aber ich zitterte mit den anderen Zuhörern vor den Kämpfen, die Salim mit den Haifischen und anderen Meeresungeheuern zu bestehen hatte.
 
Mindestens einmal im Monat verlangten die Nachbarn von dem alten Kutscher, er solle die Geschichte vom mexikanischen Fischer erzählen. Salim erzählte diese Geschichte besonders gern. Darin schwamm er gerade friedlich und munter wie ein Delphin im Golf von Mexiko, als ein bösartiger Krake ein winziges Fischerboot anfriff. Das Boot kenterte. Der Krake fing an, den Fischer mit seinen Armen zu umschlingen. Beinahe hätte er ihn erwürgt, wenn ihm Salim nicht zu Hilfe geeilt wäre. Der Fischer weinte vor Freude und schwor bei der heiligen Maria, wenn seine schwangere Frau einen Jungen zur Welt brächte, würde er ihn Salim nennen. - Hier hielt der alte Kutscher in seiner Erzählung immer inne, um zu prüfen, ob wir wachsam zugehört hatten.
 
"Ja, und was wäre gewesen, wenn sie ein Mädchen geboren hätte?" mußte die Frage lauten. Der alte Kutscher ächelte zufrieden, zog an seiner Wasserpfeife und strich über seinen grauen Schnurrbart. "Er hätte das Mädchen dann natürlich Salime genannt", lautete seine Antwort immer.
 
Der Kampf mit dem gewaltigen Kraken dauerte lang. Im Winter saßen wir Kinder in seinem Zimmer eing beieinander und zitterten voller Sorge um den Kutscher, der gegen die gewaltigen Arme mit ihren unzähligen Saugnäpfen kämpfte, und wenn es draußen donnerte, rückten wi noch enger zusammen.
 
Tamim, ein Kind aus der Nachbarschaft, hatte die unverschämte Angewohnheit, mitch während der Erzählung plötzlich mit seinen fleischigen Fingern am Hals zu packen. Ich erschrak jedesmal und schrie. Kutscher Salim tadelte den Miesmaccher kurz, fragte mich, wo er in seiner Erzählung stehengeblieben war, und kehrte zu seinem  Kampf mit dem Kraken zurück.
 
Gingen wir dann nach Hause, bekamen wir bei jedem Rascheln der Herbstblätter eine Gänsehaut, als lauerte der Krake dort auf uns. Der feige Tamim, der im Zimmer so tat, als beeindrucke ihn die Erzählung nicht, hatte am meisten Angst. Er mußte durch unseren Hof und noch durch eine dunkle Gasse gehen. Er wohnte nämlich ein paar Häuser weiter, während ich und drei andere Kinder sogar beim Einschlafen Salims beruhigende Nähe spüren konnten.
 
Eines Nachts war der Kampf mit dem Kraken besonders heftig. Ich war überglïculich, als ich mein Bett heil erreicht hatte. Plötzlich hörte ich Tamims Stimme. Er jammerte leise an der Tür des alten Mannes: "Onkel Salim, bist du noch wach?"
 
"Wer ist da?" Tamim, mein Junge, was ist los?
"Onkel, ich hab Angst, da knurrt etwas im Dunkeln."
"Warte, ein Junge, warte! Ich komme schon. Ich muß nur schnell meinen jemenitischen Dolch holen", beruhigte Salim ihn durch die geschlossene Tür.
 
Tamim stand beschämt da, weil wir alle, die nahhe bei Saim wohnten, laut lachen.
 
"Du gehst immer einen Schritt hinter mir her, und wenn auch ein Tiger auf uns springt, hab keine Angst. Ich halte ihn zurück, und du rennst nach Hause", flüsterte der alte Mann und brachte Tamim in Sicherheit, obwohl er halb blind war und in der Nacht kaum sehen konnte. So gut wie Salim konnte keiner lügen.
 
Ja, Salim liebte die Lüge, aber übertreiben wollte er nie. Eines Tages saß einer der Nachbarn bei uns und hörte vergnügt die Geschichte mit dem Kraken und dem mexikanischen Fischer. Doch mitten im Kampf wollte er plötzlich wissen, wie lang die Krakenarme seien.
 
Slaim erschreckte die Frage. "Sehr lang... mit vielen... Saugnäpfen", sagte er etwas verwirrt.
 
"Wie lang waren sie? Einen Meter? Zehn Meter?" höhnte der Nachbar.
 
"Das weiß ich doch nicht. Ich bin nicht hingegangen, um seine Arme zu messen. Ich mußte die Dinger loswerden und nicht dem Kraken einen Maßanzug scheinern", giftete der alte Kutscher zurück, und wir lachten. Der Mann murmelte aber immer wieder etwas zwischen den Zähnen, während der Kutscher so lange auf den Kraken einschlug, bis er seine ganze Tinte ausspuckte und die Flucht ergriff, und als Salim gerade den Kampf beendet hatte und an der kubanischen Küste seine verdiente Wasserpfeife rauchen wollte, meldete sich der Mann wieder: "Dann bist du es also, der die Meere blau färbte!"
 
"Nein, nein, die Meere waren schon vor meiner Geburt blau. Viele tapfere Kerle kämpften mit den Kraken. Der erste von ihnen lebte im Jahre dreihundersiebenundzwanzig vor Adam und Eva", sagte der Kutscher unbeirrt und zog ein paarmal an seiner Wasserpfeife. Danach setzte er seine Pause an der Küste Kubas fort.
 
Als ich Salim eines Tages fragte, warum seine Worte die Menschen verzaubern können, antwortete er: "Weil das ein Geschenk der Wüste ist", und da ich nicht verstand, was er damit meinte, erklärte er es mir: "Die Wüste, mein Freund, ist für einen fremden Besucher schön. Leute, die nur für ein paar Tage, Wochen oder Monate in der Wüste leben, finden sie zauberhaft, aber auf Dauer ist das Leben in der Wüste hart. Du kannst ihr in der sengenden Hitze des Tages und der klirrenden Kälte der Nacht nichts Schönes mehr abgewinnen. Deshalb wollte niemand in der Wüste leben, und sie war sehr einsam. Sie schrie um Hilfe, doch die Karawanen durchquerten sie und waren froh, wenn sie der Einöde heil entkamen. Eines Tages zog mein Urururgroßvaer, er hieß auch Salim, mit seiner Sippe durch die Sahara. Als er die Hilferufe der Wüste hörte, beschloß er, dazubleiben, um die Wüste nicht allein zu lassen. Viele lachten ihn aus, da er die grünen Gärten der Städte zurückließe, um sein Leben im Sand zu suchen. Doch mein Urururgroßvater hielt treu zur Wüste. Er glaubte sein Leben lang, daß eine Überwundene Einsamkeit das Paradies sei. Von nun an vertrieben seine Kinder und Kindeskinder die Einsamkeit der Wüste durch ihr Lachen, ihre Spiele und ihre Träume. Die Pferde meines Urururgroßvaters klopften mit ihren Hufen die Glieder der Wüste wach, und der weiche Gang seiner Kamele brachte der Wüste Ruhe. Aus Dankbarkeit schenkte sie ihm und all seinen Kindern und Kindeskindern die schönste aller Farben: die geheime Farbe de Worte, damit sie sich am Lagerfeuer und auf ihren langen Reisen etwas erzählen konnten. So verwandelten meine Vorfahren den Sand in Berge undin Wasserfälle, in Urwälder und in Schnee. Am Lagerfeuer erzählten sie, fast verhungert und verdurstet, mitten in der Wüste vom Paradies, wo Milch und Honig fließen. Ja, sie nahmen ihr Paradies mit auf ihre Reisen. Durch das verzauberte Wort wurden alle Berge und Täler, alle Planeten und Welten leichter als eine Feder.
 
In mehr als vierzig Jahren kam Salim mit seiner Kutsche nicht weiter als bis Beirut, aber mit den Flügeln seiner Wörter bereistete er wie kaum ein anderer die Länder der Erde. Daß ausgerechnet er plötzlichstumm wurde, verwirte die Bewohner seiner Gasse. Nicht einmal seine besten Freunde konnten es glauben.
 
Rafik Schami - Erzähler der Nacht
Wie der Kutscher Salim sitzend zu seinen Geschichten kam und sie unendlich lang frisch halten konnte.
 
 

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